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Wohnen wie andere

Vor zwei Jahrzehnten starteten wir mit acht Bewohnern in das Ambulant begleitete Wohnen (ABW). Mittlerweile begleiten wir 170 Menschen, die eine geistige Behinderung, eine psychische oder Suchterkrankung haben, in ihrem selbstbestimmten Leben.

07.07.2022
Cornelius Burkhardt-Fischer
ABW: 20-jähriges Jubiliäum
Andreas Zobel (l.), Bereichsleiter Gefährdetenhilfe/Sozialpsychiatrie der Diakonie Güstrow, und Maik Schuldt, einer der ersten Klienten ©Diakonie Güstrow

Wann wurde das Ambulant begleitete Wohnen gegründet? Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten, wenn man weiß, dass unser Bereich aus drei eigenständigen Bereichen – dem ABW der Behindertenhilfe, dem der Sozialpsychiatrie und dem der Suchthilfe – zusammengewachsen ist. Aber im Prinzip fing alles in der Behindertenhilfe an. Um dem Bestreben nach Ambulantisierung stationärer Einrichtungen gerecht zu werden, machte die Behindertenhilfe im Jahr 2000 in der Güstrower Südstadt zwei Trainingswohngruppen auf, um acht Bewohner aus stationären Einrichtungen für das Leben in der eigenen Wohnung zu „trainieren“. Damals war es noch gängige Fachmeinung, dass dieser Schritt vor dem Umzug notwendig war.

Im Jahr 2002 zogen diese acht Bewohner in eigene Wohnungen, alleine oder in Zweier-Wohngemeinschaften – für uns der Beginn des begleiteten Wohnens. Dieses ging anfangs, aber auch später noch, nicht ohne großen Widerstand von einigen Angehörigen und Mitarbeitern vonstatten. Vielen Bewohnern der Heime wurde die Fähigkeit, alleine in einer Wohnung zu leben, abgesprochen. Die Sorge vor Verwahrlosung, Vereinsamung und sogar die Angst, von anderen Menschen übervorteilt zu werden oder einer Sucht zu erliegen, war größer. Das Verständnis, dass der Schutz, den ein Wohnheim bietet nicht wichtiger sei als die individuelle Selbstbestimmung, musste bei vielen erst reifen. Für die Mitarbeiter, die das ABW und das Trainingswohnen begleiteten, entstand ein enormer Druck und eine große Verantwortung, dass das „Projekt“ nicht scheitern durfte.

Das Loslassen (der Klienten) mussten wir auch erst lernen.

Maren Wittenburg, Mitarbeiterin im ABW

Es scheiterte nicht, aber das „Trainingswohnen“ wurde nach der zweiten Gruppe aufgegeben, weil sich der Ansatz unserer Arbeit schnell änderte: Das ABW organisiert mit den bzw. für die Klienten die notwendige Unterstützung um ihren Wunsch, im eigenem Wohnraum zu wohnen, zu ermöglichen. Was an Fähigkeiten dafür notwendig ist, kann in Begleitung erlernt bzw. durch unsere Unterstützung kompensiert werden.

Fast zeitgleich zur Behindertenhilfe gab es die Idee des ambulant begleiteten Wohnens auch in der Sozialpsychiatrie. Wir wollten Bewohnern des Clara-Dieckhoff-Hauses nach dem Auszug ermöglichen, weiterhin von den ihnen vertrauten Mitarbeitern unterstützt zu werden. Der Schritt aus dem Wohnheim in eine eigene Wohnung zu ziehen, ist oft sehr gravierend und fällt mit Ansprechpartnern, zu denen man Vertrauen aufgebaut hat, einfacher. Auch können diese psychisch bedingte Rückzugstendenzen besser erkennen und kompensieren. Im September 2003 zog die erste Bewohnerin des Clara-Dieckhoff-Hauses in ihre eigene Wohnung, begleitet von unseren Mitarbeitern. Da aus verschiedenen Gründen in den ersten Jahren die Anzahl der Klienten nur langsam anstieg, war es ein großer Vorteil, dass das ABW organisatorisch an das Wohnhaus angegliedert war. Zu diesem Zeitpunkt konnte sich sicher keiner der Beteiligten vorstellen, wie sehr dieser Bereich einmal wachsen würde.

Bis dahin wurde ich immer nur rumgeschubst, von einem Heim in das nächste, und andere haben entschieden, wo ich wohnen darf. Seit dem Umzug in die eigene Wohnung kann ich selbst entscheiden, wo und wie ich leben möchte.

Maik Schuldt

Im Jahr 2009 begannen die ABW-Bereiche der Behindertenhilfe und der Sozialpsychiatrie zu kooperieren, was zwei Jahre später zu einem Zusammenschluss führte. Darüber hinaus existierte seit 2011 auch das ABW der Suchthilfe, welches zur Suchtberatung der Diakonie Güstrow gehörte und 2017 nach einer Kooperationsphase integriert wurde. Damit entstand ein gemeinsamer Bereich – das Ambulant begleitete Wohnen für Menschen mit Behinderung, mit einer psychischen Erkrankung und mit einer Suchterkrankung.

Mittlerweile ist das ABW stark angewachsen. Aktuell werden mehr als 170 Menschen von 20 Mitarbeitern im gesamten ehemaligen Landkreis Güstrow begleitet, also von Lelkendorf im Osten bis Moisall im Westen und von Schwaan im Norden bis Krakow am See und sogar zeitweise bis Bornkrug im Süden. Ein zentraler Bereich sind die Städte Güstrow und Bützow. Im Beratungszentrum am Platz der Freundschaft in Güstrow stehen den Mitarbeitern große, helle Büroräume zur Verfügung, nachdem man bis 2018 noch ein kleines Büro im Keller des Clara-Dieckhoff-Hauses sein Eigen nannte. Ein weitgehend selbständiges Team von fünf Mitarbeitern arbeitet im Beratungszentrum Bützow.

Meine damalige Verlobte wohnte zu der Zeit in einem Wohnheim in Rostock. Durch den Umzug in eine eigene Wohnung war es möglich, dass wir gemeinsam und selbstbestimmt leben konnten.

Thomas Andrews

Was ist aus den acht Menschen geworden, die 2002 in eine eigene Wohnung gezogen sind?

Fünf von ihnen werden nach wie vor vom ABW begleitet, eine Klientin ist mittlerweile älter als 80 Jahre. Zwei ehemalige Bewohner des Trainingswohnens sind weggezogen, eine Frau lebt mittlerweile ohne ABW-Unterstützung in Güstrow. Anlässlich des Jubiläums trafen sich vier der fünf Verbliebenen mit einer Mitarbeiterin und unserem Bereichsleiter zu einem gemeinsamen Frühstück, um sich an die Anfangszeit zu erinnern. In gemütlicher Runde wurde viel erzählt und in alten Fotoalben geblättert. Für alle war es im Rückblick ein entscheidender und wichtiger Schritt, der viel Positives gebracht hat.

Der Entschluss darüber, von einem Wohnheim heraus in die eigene Wohnung umzuziehen, ist von den damaligen Bewohnern selbst, trotz viel Widerstand, aber auch Fürsprache und Ermutigung, entschieden worden und erforderte viel Mut. Das nötige Selbstvertrauen, sich neuen Herausforderungen zu stellen, auch mit dem Beistand, Fehler machen zu dürfen, haben sich alle ehemaligen Bewohner aus den vollstationären Einrichtungen selbst erarbeitet und viel Zuspruch und Unterstützung von ihren Begleitpersonen im Ambulant begleiteten Wohnen erfahren. Als gestärkte Persönlichkeiten sind sie stolz auf das Erreichte in ihrem persönlichen Leben.

Andreas Zobel, Bereichsleiter Gefährdetenhilfe/Sozialpsychiatrie der Diakonie Güstrow
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