Herr Brandt, mit welchen beruflichen Erlebnissen und Erfahrungen kommen Sie in die Diakonie Güstrow?
Michael Brandt: Güstrow ist meine Heimatstadt. Ich bin hier aufgewachsen und habe nach der Schule KfZ-Elektriker gelernt. Während meines Zivi-Dienstes, bei dem ich einen schwerstbehinderten, agilen jungen Mann betreut habe, der Elektrorollstuhl-Hockey spielte, war schnell klar, dass ich einen anderen Weg gehen möchte. Ich lernte berufsbegleitend Heilerziehungspfleger und startete 2007 auf dem Wichernhof meine Arbeit als Fachkraft. Die Episode blieb kurz, das war nicht meine Erfüllung. Die Einblicke haben mich jedoch bestärkt, zu studieren und die soziale Arbeit mit meinem Denken, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, mit entwickeln und verändern zu können. Viele Jahre habe ich in der Diakonie Nördliches Mecklenburg, heute Diakonie Nord-Nord-Ost, im ambulanten Bereich für Menschen mit psychischen Erkrankungen und kognitiven Beeinträchtigungen gearbeitet. Als Mitarbeiter, Teamleiter und Abteilungsleiter, auch für Tagesgruppen und für eine gemeinschaftliche Wohnform. Seit 2022 hatte ich die Verantwortung für die Teilhabekoordination und die Aufgabe, den gesamten Prozess der Umstellung des BTHG zu entwickeln und zu strukturieren.
Nun sind Sie neuer Bereichsleiter für die Gefährdetenhilfe und Sozialpsychiatrie. Was heißt das für Sie persönlich?
Michael Brandt: Ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Nach 17 Jahren wechsle ich den Arbeitgeber, was mir nicht ganz leicht fällt, denn ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu meinen bisherigen Kollegen. Aber, ich war und bin bereit, etwas Anderes zu probieren. Ich freue mich, den Bereich mit entwickeln und verantworten zu können, freue mich auf die neuen Kollegen und bin gespannt auf alles, was kommt. Zugleich fühlt es sich gut an, nun in meiner Heimatstadt zu arbeiten. Meine Kinder gehen hier zur Schule und in die Kita. Alleine das Wissen, im Fall des Falles schnell für sie da zu sein, ist angenehm.
Herr Zobel, haben Sie ebenfalls so ambitioniert angefangen?
Andreas Zobel: Ja. Als ich 1978 in tiefster DDR-Zeit anfing, in der Diakonie-Behindertenhilfe zu arbeiten, bin ich an Grenzen gekommen, was Fremdbestimmung und Gewalt anging. Dies zu erleben, war mein Motor, mich seit je her für die Würde des Menschen einzusetzen. Als ich am 1. April 2001 als Bereichsleiter der Behindertenhilfe in der Diakonie Güstrow begann, studierte ich zwar berufsbegleitend, hatte aber die Chance, meine Vorstellungen im Studium weiterzuentwickeln und in die Praxis zu transferieren. Die individuelle Begleitung des Menschen und die Orientierung auf seine Ressourcen, das war mir wichtig. Dabei Prozesse aufzubrechen, ja zu deinstitutionalisieren, das war schon revolutionär.
Sie haben in der Diakonie Güstrow vieles vorantreiben können …
Andreas Zobel: Aus dieser Grundhaltung folgten viele Veränderungen. Das damalige Trainingswohnen habe ich abgeschafft und das Ambulant begleitete Wohnen (ABW) eingeführt. Dabei gab es viel Widerstand, größtenteils von Mitarbeitern und der Kirchgemeinde, die „Fürsorge“ als Haltung verinnerlicht hatten. Aber, es hat funktioniert, die Mitarbeiter sind motiviert und das ABW ist nach und nach gewachsen. Die Menschen mit einer kognitiven und psychischen Beeinträchtigung erhielten mit der Möglichkeit des selbständigen Wohnens die Regiekompetenz über ihr Leben, die Mitarbeiter hingegen wurden Assistenten in der Begleitung. Beide Seiten begegneten und begegnen sich auf Augenhöhe. Nachdem ich die Sozialpsychiatrie, später auch die Gefährdetenhilfe verantwortete (dafür aber die Behindertenhilfe abgab), führten wir die ambulanten Angebote aller drei Bereiche zusammen. Viele Prozesse konnten fachlich aufeinander abgestimmt werden. Das war eine spannende Zeit. Für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung und/oder Suchterkrankung konnten wir den Aufenthalt in den psychosozialen Einrichtungen bzw. der Nachsorgeeinrichtung deutlich kürzen und eine Perspektive für selbstbestimmtes Leben geben.
Was wird sich weiter bewegen und verändern?
Michael Brandt: Wir gehen jetzt in die Umsetzung des BTHG. Das heißt, wir werden in meinem Verantwortungsbereich für alle stationären Einrichtungen eine völlig andere Arbeitsstruktur organisieren und alle Arbeitsabläufe auf die personenzentrierte Hilfe umstellen. Personenzentriert heißt, dass die Menschen, die bei uns wohnen, das Recht haben, selbst zu entscheiden, wie sie leben wollen und dass die dafür notwendigen Leistungen individuell und zielgerichtet erbracht werden. Bei der Umstellung wird es sicher viele Schnittstellen zu anderen Bereichen, wie der Behindertenhilfe und den ambulanten Diensten, geben. Das ist gut so, denn wir möchten über klassische Einrichtungsgrenzen hinweg denken. Das ist ein Prozess, dessen Ergebnis offen ist.
Herr Zobel, was nehmen Sie zum Abschied an Erinnerungen mit?
Andreas Zobel: Die Lebenswege unserer Klienten. Auf dem Wichernhof gab es zum Beispiel einen Bewohner, der war absoluter Eisenbahnfan. In seinem schmalen Zimmer stand eine riesige Eisenbahnplatte. Nachdem er mit dem ABW die Möglichkeit bekam, in einem eigenen Zuhause zu wohnen, spielte diese überhaupt keine Rolle mehr. Vielmehr fuhr er nun selbst Zug, erkundete die ganze Region, auch das U-Bahn- und S-Bahnnetz in Berlin. Er verfuhr sich gnadenlos, machte Fehler, aber er konnte aus diesen Erfahrungen lernen. Menschen, die geschlossen untergebracht waren, führen inzwischen ein selbstbestimmtes Leben. Diese, wie auch viele andere Geschichten faszinieren und berühren mich.
Herr Brandt, ich habe gehört, Sie sind fasziniert von Musik und spielen in einer Band. Stimmt das?
Michael Brandt: Ja (lacht), die Band heißt dig.WAH. Wir machen deutschen Rock und feiern dieses Jahr unser zwanzigjähriges Jubiläum. Ich bin Texter, Sänger, Gitarrist. In den Texten setze ich mich mit politischen, gesellschaftlichen und sozialen Themen auseinander. Für mich ist die Musik ein Ausgleich und ein Sprachrohr, um zu sagen, was ich denke.
Vielen Dank für das Gespräch!