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"Du kannst mit mir reden"

Vor dreißig Jahren wurde die Sucht- und Drogenberatung in der Diakonie Güstrow gegründet. Die Suchtberater Regine Gruse und Gunter Wessalowski erzählen, welche Entwicklung die Beratungsstelle seitdem genommen hat.

11.04.2024
Stefanie Daug
Unsere Sucht- und Drogenberater: Regine Gruse, Susanne Wichmann (Mitte) und Gunter Wessalowski
Unsere Sucht- und Drogenberater: Regine Gruse, Susanne Wichmann (Mitte) und Gunter Wessalowski Foto: Stefanie Daug

Frau Gruse, Sie sind seit 23 Jahren im Team. Was haben die früheren Kollegen über die Anfänge berichtet?
Die Beratungsstelle wurde als Anlaufpunkt gegründet für Menschen, die von einer Suchterkrankung betroffen sind. Es gab kaum Beratungsangebote in der damaligen DDR, in der Regel wurden Süchtige im Krankenhaus behandelt und irgendwie wieder eingegliedert. Die Beratungsstelle startete in Bützow, zunächst in der ehemaligen Kreisverwaltung, dann in der Bahnhofsstraße. Dietlind Artelt und Bernd Lippert bauten das Angebot auf, ein Jahr später kam Heidelore Fiebig hinzu. Am Anfang ging es vor allem darum, die Betroffenen zu betreuen, miteinander zu reden und ggf. in Therapie- und Nachsorgeeinrichtungen zu vermitteln. Fast alle hatten das Problem der Alkoholabhängigkeit. 

Recht schnell, 1995, gab es auch eine Zusammenarbeit mit der JVA Bützow.
Regine Gruse: Das waren anfangs vor allem Hilfen zur Wiedereingliederung. Die Kollegen sprachen mit den suchtkranken Straffälligen über soziale Probleme, die Suche nach einer Wohnung oder halfen bei Anträgen für finanzielle Hilfe. Das fand in Einzel- oder Gruppengesprächen statt. Die Nachfrage war enorm.

Gunter Wessalowski: Vor allem die individuellen Gespräche in der JVA waren sehr intensiv. Als ich 2011 zum Team kam, ging ich an vier von fünf Tagen zur Beratung in das Gefängnis. Das Angebot gab es bis 2016, da trennte sich der damalige Anstaltsleiter von vielen externen Beratern, auch von uns, um diese Angebote inhouse aufzubauen. Leider ist dieses Konzept nicht aufgegangen, weshalb die JVA u.a. wieder an uns herangetreten ist mit der Bitte, den hohen Bedarf an Suchtberatung zu leisten. Wir schaffen das jedoch wegen personeller Engpässe momentan nicht, aber immerhin kommen die Gefangenen, die Ausgang haben, zu mir in die Beratungsstelle Bützow. 

Warum kam 1998 der Schritt nach Güstrow? 
Regine Gruse: In Güstrow gab es zum Thema Sucht nur die Beratung im Gesundheitsamt bei Frau Dr. Stenzel und die Beratungsstelle vom DRK, welche aber zum 31.12.2000 aus finanziellen Gründen schließen musste. Das nunmehr geringe Angebot und die steigende Nachfrage hat die Diakonie Güstrow bewogen, eine Nebenstelle in Güstrow zu eröffnen. Zwei Kolleginnen von der bisherigen DRK-Suchtberatung, u.a. ich, wurden zum 1. Januar 2001 eingestellt, sodass es für mich einen nahtlosen Übergang gab. Wir starteten in der Gleviner Straße, zogen jedoch schnell in größere Räume in die Burgstraße um.
 
Viele Jahre gab es in Bützow auch das „StöWchen“ und in Güstrow das Kontaktcafé. 
Regine Gruse: Das „StöWchen“ mit seinem Motto „Die Tür ist geöffnet, hindurchgehen musst du selber“ entstand unter Federführung von Frau Fiebig. Diese Begegnungsstätte war ein Angebot der Hilfe zur Selbsthilfe, ein Anlaufpunkt, ein Heimathafen, ja eine Ersatzfamilie für alle, die einsam waren und denen zu Hause die Decke auf den Kopf fiel. Abstinenz wurde nicht vorausgesetzt, aber natürlich war es nicht erlaubt, im „StöWchen“ Alkohol zu trinken. Die Menschen, die kamen, haben tagesstrukturierende Angebote und Geselligkeit erlebt. Sie konnten ihre Wäsche waschen, ein bisschen Gartenarbeit machen, an Ausflügen und Spielen teilnehmen. Für viele war es das einzige, was sie an Kontakten und Unterstützung hatten. Leider musste die Begegnungsstätte aus finanziellen Gründen nach gut zwölf Jahren schließen, genauso wie das Kontaktcafé, das es in Güstrow an wechselnden Orten etwa achteinhalb Jahre gab. Dort ging es ganz ähnlich zu wie im „StöWchen“. Suchtkranke, die alleine und einsam waren, tranken Tee oder Kaffee, erzählten miteinander, erlebten etwas. Zwei abstinent lebende Ehrenamtliche kümmerten sich um das Café, organisierten kleine Feste wie Fasching. Für die Suchtkranken war das eine gute Basis, um Zugang zu uns zur Beratungsstelle zu bekommen und Vertrauen zu fassen, auch unsere Beratung anzunehmen. 

Gunter Wessalowski: Wir würden es sehr begrüßen, wenn wir in dieser Art wieder etwas hätten. Ich habe in Thüringen lange Zeit in einem derartigen Café gearbeitet und erlebt, wie wichtig ein solches niederschwelliges Angebot für Betroffene ist. Hier in Güstrow und in Bützow standen die suchtkranken Besucher plötzlich „auf der Straße“ und hatten keinen Anlaufpunkt mehr.  
 
Als Antwort auf den wachsenden Bedarf beraten Sie seit Ende der Neunzigerjahre auch Drogenabhängige, Gefährdete und deren Angehörige.
Regine Gruse: Nach der Wende dachten viele, jetzt wird uns die Problematik mit den Drogen überrollen. Dem war nicht so, der Bedarf an Beratung entstand peu à peu. Denn der Markt musste erst einmal entstehen, d.h. es brauchte Zeit, dass Menschen Drogen konsumieren, über Jahre in die Abhängigkeit geraten und schließlich verstehen, dass sie abhängig sind. Wir hatten in der Beratungsstelle entsprechend Zeit, uns mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Die Beratung ist letztlich die gleiche wie bei Alkoholabhängigen, auch das Krankheitsbild und der körperliche Verfall sind ähnlich. Die Angebote zur Behandlung haben sich natürlich ausdifferenziert, z.B. wuchsen Kliniken für Drogenpatienten. 

Mit welchen Problemen wenden sich die Ratsuchenden heute vor allem an Sie?
Gunter Wessalowski: Wir haben seit vielen Jahren eine recht ähnliche Verteilung unserer Ratsuchenden. Etwa zwei Drittel bis drei Viertel der Betroffenen sind Alkoholpatienten, der Rest Drogenkonsumenten und ein kleiner Teil ist betroffen von nichtstoffgebundenen Süchten wie Spielsucht und Kaufsucht. Unsere Klienten kommen aus allen Berufsgruppen und sind keineswegs, wie die landläufige Meinung sein mag, nur Langzeitarbeitslose. Mehr als die Hälfte steht in einem Arbeitsverhältnis oder ist selbständig. Viele sind eigentlich „fleißige Bienchen“, denen es schwer fällt, Grenzen zu setzen und die Suchtmittel nutzen, um alles zu schaffen. 

Regine Gruse: Zugenommen hat die Polytoxikomanie, d.h. der gleichzeitige Konsum von Substanzen, z.B. von Cannabis, Amphetaminen und Alkohol. Auch nehmen wir seit einigen Jahren war, dass die psychischen Erkrankungen der Betroffenen steigen. Wir beraten nicht mehr die klassischen Suchtkranken. Die Probleme der Menschen und ihre seelischen Leiden sind komplexer geworden.

Sie führen vorrangig individuelle Beratungsgespräche, haben aber auch Gruppenangebote?
Regine Gruse: Ja, vor allem im Rahmen der ambulanten Nachsorge. Diese schließt sich einer Suchttherapie bzw.  Entwöhnungsbehandlung an, um das abstinente Leben zu festigen und Struktur zu geben. In Gruppen finden auch unsere MPU-Vorbereitungskurse statt für alle die, denen unter Einfluss von Suchtmitteln der Führerschein entzogen wurde. 

Auch in Sachen Suchtprävention sind Sie schon sehr lange unterwegs. Was versteht man darunter?
Gunter Wessalowski: Wir klären in Schulen, Vereinen oder Betrieben über Suchtmittel, Gefahren und Verhaltensweisen auf, um Süchten vorzubeugen. Ich bin beispielsweise in etwa 15 Schulen regelmäßig und unregelmäßig unterwegs und spreche Kinder und Jugendliche mit einem Mix aus Spielen, Informationsvermittlung und Beteiligung an. Oft dabei ist der „Suchtsack“, das Tabuspiel und der Rauschbrillenparcour. Neulich war ich sogar in einem Hort, die Kids waren sehr wissbegierig und haben rege erzählt. Im Prinzip bräuchte es jemanden, der nur Suchtprävention an den Schulen macht und eine verbindliche Integration in den Unterricht. Schafft man es, umfassend und früh aufzuklären, können wir den Einstieg in den Konsum von Suchtmitteln und die Folgen für den Einzelnen und die Gesellschaft reduzieren.  

Wie ist es für Sie, sich tagtäglich mit Problemen von Alkoholikern oder Drogenabhängigen auseinanderzusetzen?
Regine Gruse: Ich arbeite seit 1993 in einer Suchtberatung. Als ich anfing, habe ich in den ersten Monaten gezweifelt, ob ich diesen Job länger machen kann. Die Fälle zerrten an mir, ganz viel nahm ich „mit nach Hause“, aber darüber zu sprechen war und ist tabu. Ich habe über die Zeit gelernt, mich abzugrenzen und nicht mit jedem Rückfall meine Arbeit in Frage zu stellen. „Erfolg“ habe ich für mich neu definiert. Es kommt nicht darauf an, ob jemand „clean“ wird, sondern bereit ist, sich auf die Beratung einzulassen. Ich sehe mich als Begleiter auf einem Stück Weg, aber gehen muss der Betroffene den Weg selbst. Dazu kommt: Wir haben uns als Kollegen und die Möglichkeit der Supervision. Wir können Fälle miteinander besprechen und uns beraten, wenn wir einmal nicht mehr weiter wissen.

Gunter Wessalowski: Ich finde es auch sehr wertvoll, mit meinen Kollegen über Fälle sprechen zu können. Mich hat in der Anfangszeit vor allem belastet, wenn ich es mit Klienten zu tun hatte, die versucht haben, mich zu manipulieren und dabei erfolgreich waren. Das hat mich auf dem Weg nach Hause schon sehr geärgert, wenn jemand ein Spiel mit mir gespielt hat. Wichtig ist, dass man sich in unserem Job bewusst macht, dass man die Handlungen des Ratsuchenden nicht persönlich nehmen darf. In den seltensten Fällen tut jemand etwas mit Absicht. 

Gibt es Fälle, die Ihnen zu schaffen machen?
Regine Gruse: Ja. Wir beraten neben Betroffenen auch Angehörige, selbst Minderjährige. Ich erinnere mich an ein Mädchen, das vom Jugendamt in die Beratungsstelle geschickt wurde. Das Mädchen war damals zehn Jahre alt, die Mutter alkoholabhängig. Sie kümmerte sich zu Hause um den gesamten Haushalt, versorgte das kleinere Geschwisterkind während die Mutter noch im Bett lag, zog es an, kochte Essen, versorgte auch die Mutter. Mit zehn! Das Mädchen war völlig im die Rolle der Mutter geschlüpft, ihrer Kindheit beraubt und für ihr Alter sehr erwachsen. Das ist mir sehr ans Herz gegangen. 

Es gibt immer mal so Schicksale, die mich sehr berühren und bewegen. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin in einem Film und nicht in der Wirklichkeit, denn es ist unvorstellbar, was einige Menschen aushalten und sie zu Suchtmitteln greifen lässt. Manche fassen hier bei uns das erste Mal Mut zu reden, trauen sich über sexuellen Missbrauch, Scham, Ausgrenzungen und Angst zu sprechen. Dann ist es wichtig zu vermitteln: Ich halte das aus, du kannst mit mir reden. 

Interview: Stefanie Daug

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