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Begleitung durch das Leben

Cornelius Burkhardt-Fischer, Teamleiter des Ambulant Begleiteten Wohnens, berichtet von den Erfahrungen mit einer Frau, die er vor über 25 Jahren in Matgendorf kennenlernte und die heute in der neuen Senioren-WG in Bützow wohnt.

09.12.2022
Cornelius Burkhardt-Fischer
ABW: Teamleiter Cornelius Burkhardt-Fischer (l.)
Cornelius Burkhardt-Fischer (l.), Teamleiter des Ambulant begleiteten Wohnens ©Jörn Lehmann

Ich lernte Frau E. im Juni 1996 kennen. Damals begann ich meine Tätigkeit in den Psychosozialen Einrichtungen Schloss Matgendorf im geschlossenen Wohnbereich, in dem psychisch Kranke für eine begrenzte Zeit leben.

Frau E. lebte seit zu diesem Zeitpunkt schon dort. Warum eine geschlossene Unterbringung für sie angeordnet worden war, erschloss sich mir damals nicht eindeutig. Sie hat zuvor in einer Einrichtung für Menschen mit einer geistigen Behinderung in Neubrandenburg gelebt und war diesen gegenüber offenbar aggressiv aufgetreten. Aufgewachsen ist sie in Neubrandenburg, wo sie eine unterstützte Ausbildung im Hauswirtschaftsbereich begonnen, aber nicht beendet hat.

Für Frau E. wurde eine Schizophrenie diagnostiziert, allerdings mit atypischen Symptomen. Sie ist stark introvertiert, reagiert und antwortet oft extrem zeitverzögert in Gesprächen. Bei Überforderung oder Unzufriedenheit reagiert sie mitunter mit Schimpftiraden, die für Außenstehende psychotisch oder wahnhaft wirken. Grundsätzlich ist sie aber eine sehr friedliche Person mit etwas kindlich wirkenden Wünschen und Vorstellungen. Da sie damals, 1996, schon kein selbst- oder fremdgefährdendes Verhalten zeigte, konnte sie sich wie viele andere Mitbewohner in Matgendorf auf dem Gelände oder im Dorf frei bewegen.

In Erinnerung bleibt mir eine überraschende Episode. Während eines Nachtdienstes kam Frau E. zu mir und zeigte mir sehr schöne, rote Lackschuhe. Auf Nachfrage erfuhr ich, dass sie diese in der Stadt gekauft hatte, allerdings nicht bei der begleiteten Stadtfahrt, da ihr die Mitarbeiter den Kauf ausgeredet haben. Alleine und unbemerkt war sie anschließend mit dem Bus selbstständig in die Stadt gefahren und hat sich ihren Wunsch nach diesen Schuhen erfüllt. Für die Rückfahrt fand sie jemanden aus dem Dorf, der sie mitnahm. Das zeigte schon, dass in ihr unbemerkte Fähigkeiten schlummern.

1998 wechselte ich in das neu eröffnete psychosoziale Wohnheim „Clara-Dieckhoff-Haus“ in Güstrow. Ein Jahr später zog Frau E. ebenfalls in dieses Haus, obwohl viele der begleitenden Mitarbeiter und ihre Angehörigen ihr diesen Schritt nicht zutrauten. Da sie oft abwesend wirkte, gab es große Ängste, dass sie im Straßenverkehr verunglücken oder nicht in das Wohnheim zurückfinden würde. Tatsächlich kam sie schon nach einigen Tagen von einem Stadtgang nicht zurück, sodass wir sie als vermisst melden mussten. Zwei Tage später traf man sie in Begleitung eines fremden Herrn in der Stadt an, der seitdem bis heute ihr Partner ist. Auf die Frage, warum sie nicht zurückgekommen sei, antwortete sie: „Ich hatte Angst, dass ihr mir meinen Freund verbietet.“

Sehr gerne reiste Frau E. auch auf unseren jährlichen Urlaubsfahrten mit, bei denen sie manchmal auch „abhanden“ kam, sich aber immer schnell wieder „finden ließ“. Ihr großer Wunsch war schon immer, in einer eigenen Wohnung „mit einer weißen Couch“ zu leben.

Die UN-Behindertenrechtskonvention legt fest, dass jeder Mensch frei entscheiden kann, wo er leben möchte. Wir nehmen in der sozialpsychiatrischen Arbeit diese Maxime sehr ernst. Deshalb haben wir es Frau E. im Jahr 2017 ermöglicht, in eine eigene Wohnung zu ziehen, in der sie vom Ambulant begleiteten Wohnen (ABW) unterstützt wird. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits als Mitarbeiter und Teamleiter in das ABW gewechselt und durfte an ihrem neuen Glück mit allen Höhen und Tiefen teilhaben.

Frau E. kann, wenn man ihr in Ruhe zuhört, sehr gut ihre eigenen Wünsche und Vorstellungen formulieren. Wenn sie merkt, dass jemand sie nicht ernst nimmt, nicht zuhört oder ungeduldig mit ihr ist, kann sie schnell schroff werden. In ihrer Wohnung kam es schon mal vor, dass sie Mitarbeiter des Hilfesystems die Tür gewiesen hat.

Seit einiger Zeit stellen wir fest, dass die Fähigkeiten, ihr Leben selbst zu organisieren und sich selbst zu versorgen, immer mehr nachlassen. Auch klagt sie oft, dass sie einsam und nicht mehr glücklich in der Wohnung ist. Vor etwa zwei Jahren rutschte Frau E. bei Glatteis aus und brach sich die Hand. In der Klinik lehnte sie kategorisch eine OP ab und nahm immer wieder den Gipsverband selbstständig ab, da er ihr Schmerzen bereitete. Da sie einen Pflegegrad hat und auch von unserem Pflegedienst unterstützt wurde, kam die Idee, sie in der Kurzzeitpflege zu versorgen bis die Hand verheilt ist. Auch die Pflegepension in Bützow zeigte sich bereit, Frau E. aufzunehmen. Wegen verschiedener Formalitäten verzögerte sich der Aufenthalt in der Pflegepension allerdings. Die Tage dort taten ihr sehr gut, sie erholte sich zusehends.

Leider hat sie heute durch den schlecht verheilten Handbruch ein zusätzliches Handicap. Als klar war, dass aus der Pflegepension eine Senioren-WG wird, entstand die Idee, dass diese für Frau E. ein neues Zuhause sein könnte. Seit einigen Wochen wohnt sie dort zur Probe und wir hoffen, dass diese Wohnform für sie eine gute Alternative sein kann.

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